Kinderbusch
Die Siedlung, in der Corinna ihre Kindheit verlebte, lag am Kinderbusch,
einem kleinen, aber finsteren Gehölz, und der Einfachheit halber hatte
man die Straße danach benannt, und die Leute wohnten nun Kinderbusch
drei oder Kinderbusch fünf.
Seinen Namen hatte das Gehölz erhalten, so wurde erzählt, weil
man dort die Leichen von zwei erschlagenen Geschwistern aufgefunden hatte,
wobei die Überlieferungen widersprüchlich waren, was den Tatzeitpunkt,
das Geschlecht und das Alter der Opfer betraf.
Der oder die Täter waren nie überführt worden, hieß
es, überhaupt sei selbst die Identität der Opfer nie geklärt
worden. Mitten in dem Wäldchen befanden sich zwei tiefe Krater, es waren
Einschlaglöcher von Bomben aus dem Krieg. Corinna war sich sicher, dass
das Verbrechen in den Bombentrichtern, die nur zwanzig oder dreißig
Meter auseinander lagen, stattgefunden hatte, und dass man dort die Leichen
verscharrt hatte. Quatsch, sagte ihre Schwester Meike, die drei Jahre älter
war, die Leichen haben sie verbrannt, und der Krieg ist schon seit über
zehn Jahren vorbei.
Das glaubte Corinna nicht und sie war zudem der festen Überzeugung,
dass der Wald von etwas Bösem befallen war und dass auch etwas Unheimliches
in ihrem Elternhaus am Kinderbusch sein Unwesen trieb. Vielleicht stammte
das Holz des Dachstuhls aus dem Kinderbusch und lebte heimlich weiter, voll gesogen
mit dem Blut der Kinder, nur darauf wartend, wieder auszutreiben und zu wuchern.
Nachts knarrte und knackte es in dem ausgebauten Speicher, in dem sich das
Zimmer der beiden Mädchen befand, als trieben Heerscharen von Teufeln
und Kobolden ihr Unwesen, als nagten Drachen und der böse Wolf um die
Wette, je nach dem, welches Märchen abends zum Einschlafen gerade vorgelesen
worden war.
Meike war bei diesen Dingen überhaupt keine Hilfe, denn jede Angst,
die Corinna hatte, verstärkte sie, indem sie deren Befürchtungen
durch entsprechende Schilderungen anreicherte. Schon längst rief Corinna
nachts nicht mehr nach Meike, aber die Ältere wusste Bescheid und erzählte
von sich aus Schaudergeschichten, wenn die Mutter das Licht gelöscht
und die knarrende Treppe hinunter gegangen war: Die böse Fee kann nicht
nur Quellen, sondern auch die Wasserleitungen in Häusern vergiften. Kinder,
die davon trinken, werden zu Füchsen und von den Jägern gejagt und
ausgeräuchert. Im Kinderbusch wohne ein Wolf, sie habe ihn einmal von
weitem gesehen. Nachts kommt der und schleicht um die Häuser, ob er nicht
aus irgendeinem Bett ein Kind holen kann. Bäume, die auf Leichen wachsen,
werden selbst zu Menschenfressern.
Das tat sie aus Rache dafür, dass Corinna im Dunkeln mit den Zähnen
knirschte und in einer Tour rülpste. Mama, sie rülpst und knirscht
die ganze Nacht, beschwerte sich Meike. Gar nicht wahr, protestierte Corinna,
ich habe geschlafen. In Wirklichkeit hatte sie absichtlich wie wild mit den
Zähnen gemahlen und aufgestoßen, um sich für Meikes fehlende
Angst zu rächen.
Als der Bauernhof, bei dem sie immer die Milch holen mussten und der auf
der anderen Seite des Kinderbuschs lag, eines Nachts mit lautem Knallen und
Gebrüll in Flammen aufging, durfte Meike, weil sie bereits acht und in
der zweiten Klasse war, mit den Eltern hinausgehen zum Zugucken. Corinna sollte
schlafen, stand aber die ganze Zeit halb aus dem Kippfenster gequetscht, und
starrte atemlos auf den Feuerschein, der den Himmel rot färbte. Die Flammen
selbst konnte sie nicht sehen, aber sie hörte das Krachen der in der
Hitze berstenden Balken, roch das verbrannte Holz und rechnete damit, dass
das Feuer den Kinderbusch ergriff.
Als die anderen heimkamen, legte sie sich hin und stellte sich schlafend.
Ohne Rülpsen. Es half nicht. So ein Haus kann sehr leicht brennen, sagte
Meike, während sie zufrieden unter die Decke kroch. Es ist das Holz.
Bevor die Flammen auflodern, fängt das Haus an zu knarzen, aber dann
ist es schon zu spät. Denn dann brennt schon die Treppe, und man kann
nicht entkommen, und wenn ein Mensch verbrennt, dann platzt er mit einem totalen
Knall. Ist ja gar nicht wahr, sagte Corinna.
Sie hatten eine Untermieterin, die hieß Frau Kruse. Sie war riesengroß,
hatte lange dunkle Haare und liebte es, ganz in Schwarz herumzulaufen. Bevorzugt
in schwarzen Strumpfhosen und einem Oberteil, wie man es im Ballett oder beim
Turnen anhat. Frau Kruse hatte keinen Mann und arbeitete als Sekretärin.
Einmal in der Woche kam sie aus dem ersten Stock nach unten, um die Badewanne
zu benutzen. Durch das Schlüsselloch konnte man dann das Büschel
von schwarzen Haaren zwischen ihren Beinen betrachten.
Die Mutter war klein und blond, und es war fraglich, ob sie Haare zwischen
ihren Beinen hatte. Wahrscheinlich nicht, Corinna hatte auch keine. Ansonsten
kam Frau Kruse in ihren Strumpfhosen abends zum Fernsehen herunter, denn sie
hatte kein eigenes Gerät, und ragte dann schwarz neben dem Vater auf
dem Sofa in die Höhe, trank die Flasche Bier, die sie sich mitgebracht
hatte, und rauchte zwei Zigaretten aus einem bräunlich angelaufenen Mundstück.
Die Wochenenden verbrachte Frau Kruse meistens in ihrer Gartenlaube. Diese
lag in einer Schrebergartensiedlung am Rand eines anderen Wäldchens,
das Bucholz hieß. Die Laube war aus Balken gebaut, davor fiel ein Gartenstück
in den Hang. In ihrem Wäldchen konnte man, wie Frau Kruse erzählte,
im Herbst Bucheckern sammeln und jede Menge Pilze finden. Das gab es im Kinderbusch
nicht, einzig einen tellergroßen Birkenpilz hatte die Großmutter
dort einmal gefunden und diesen dann in der Küche gebraten und ohne zu
teilen aufgegessen. Nicht zu teilen war das Schlimmste.
Corinna kannte das Zimmer der Frau Kruse sehr gut. Es grenzte direkt an das
Schlafzimmer der Eltern, und dort durfte Olaf erst kurz vor seinem Unfall
einziehen. In ein eigenes Zimmer, denn er war ja der einzige Sohn. Olaf hatte,
wie es Corinna damals befriedigt merkte, die Aufmerksamkeit des Vaters von
Meike auf sich gezogen. Aber er war gerade drei Jahre alt, als er mit seinem
Dreirad in ein Auto fuhr. Die Mutter war beim Einkaufen gewesen.
Meike war zu beleidigt, dieses Zimmer zu betreten, denn erst hatte es Olaf
bekommen, und als er nun weg war, hockte die Kruse darin. Zur Strafe nahm
Meike das Feuerzeug, als Frau Kruse es einmal im Wohnzimmer vergessen hatte,
und versteckte es unter ihrer Matratze. Corinna hätte es gerne zurückgebracht,
aber dann wäre herausgekommen, dass sie in Meikes Sachen schnüffelte.
Unter der Dachschräge in Frau Kruses Zimmer stand noch Olafs Bett, das
gleiche Modell, in dem auch die Mädchen schliefen, in der Ecke befand
sich ein alter, dunkler Kleiderschrank, und vor dem Fenster war das Interessanteste,
nämlich ein neuer runder Esstisch mit drei Stühlen, an dem
ihr Frau Kruse manchmal am späten Nachmittag, wenn sie von ihrer Sekretärinnenarbeit
gekommen war, einen Kakao und ein paar Kekse servierte. Die Milch für
den Kakao wärmte sie mit einem Stab in einer kleinen silbernen Kanne,
die Kekse holte sie aus einer großen bunten Dose, die sie unter ihrem
Bett hervorzog.
Für den Kakao und die Kekse musste Corinna Fragen beantworten.
Insbesondere, was die Mutter so tagsüber über Frau Kruse redete.
Ach, nichts, log Corinna, um die Bewirtung nicht zu gefährden, und verschwieg,
dass die Mutter gesagt hatte: Von dem Rauch tränen einem ja die Augen,
und wer wäscht die Gardinen, die vergilben, und dieser Biergeruch, wie
kann eine Frau immer Bier trinken. Und der Vater sagte: Das Grundstück
an dieser Laube besteht nur aus Unkraut, wie kann man das nur so verkommen
lassen. Das interessierte die Mutter zwar nicht, aber sie schien zufrieden,
dass auch der Vater etwas an Frau Kruse auszusetzen hatte, denn sie widersprach
nicht. Und in dieser kleinen Hütte, sagte sie, da sind die Wände
sicher schwarz vor Tabakqualm, und überall stehen die Bierflaschen. Ja,
sagte der Vater, das Unkraut kriegt sie irgendwann nicht mehr weg.
Solche Sachen gab Corinna nicht weiter. Stattdessen sagte sie, dem Vater
würden die schwarzen Strümpfe sehr gefallen, und die Mutter würde
sich überlegen, ob sie nicht auch Sekretärin werden sollte. Das
schien Frau Kruse gerne zu hören, sie holte drei zusätzliche Kekse
unter dem Bett hervor, und Corinna erzählte beim nächsten Mal, dass
dem Vater der Garten an der Laube so gut gefalle und die Mutter bedauere,
dass ihr Bier leider nicht schmecke. Als die Keksdose zu blieb, schwächte
Corinna ab: Manchmal trinkt sie ja schon ein Bier, aber heimlich. Immer noch
kein Keks. Und dann raucht sie draußen, gestern zum Beispiel. Frau Kruse
stand auf und ging zum Bett. Und sie hat dann gesagt, so schlecht ist das
Rauchen gar nicht, fuhr Corinna fort. Lügst du jetzt auch nicht? fragte
Frau Kruse streng. Na ja, sie hat gesagt, sie könnte sich vielleicht
daran gewöhnen, sagte Corinna.
An einem Samstag fing der Vater an, in Frau Kruses Garten das Unkraut zu
jäten, denn es war nicht mehr mit anzusehen. Sie fuhren alle mit dem
grauen Borgward-Isabella zur Schrebergartensiedlung und durften in der Laube
sitzen und Limonade trinken, während der Vater und Frau Kruse arbeiteten.
Am nächsten Samstag wollte die Mutter nicht mehr mitgehen, weil es ihr
zu langweilig war und sie es sich nicht leisten konnte, Limonade zu trinken,
während niemand ihre Fenster putzte. Auch Meike wollte lieber zu Hause
bleiben, und so fuhr Corinna alleine mit.
Der Vater und Frau Kruse tranken Bier und dachten nicht an das Unkraut. Nach
einer Weile schickten sie Corinna zum Bucheckernsammeln. Also streifte sie
durch den Wald, der zwar nicht ganz so unheimlich wie der Kinderbusch war,
aber trotzdem komisch. In den hohen Bäumen raschelte und flüsterte
es und es war, als wolle sie etwas zu den Wipfeln hinauf ziehen und sie dann,
wenn sie oben war, mit sich fortreißen. Bucheckern waren nirgends zu
finden, stattdessen bewegten sich plötzlich Schatten auf sie zu, so
dass sie voller Panik zur Laube zurück rannte.
Aber die Tür war verschlossen, niemand reagierte auf ihr Hämmern.
Der Vater und Frau Kruse waren nicht mehr da. Corinna rannte durch die
Schrebergartensiedlung zum Ausgang, wo die Autos parkten. Zu ihrer Erleichterung
stand dort der graue Borgward noch
Zurück bei der Laube, war
die Tür wieder offen. Wir haben gerade das Unkraut weggebracht,
sagte der Vater.
Unkraut wegbringen nennt man das also heute, sagte die Mutter, als sie ihr
davon erzählte, wie sie vor den Schatten aus dem Wald geflüchtet
war. Die Kruse ist eine Hexe, sagte Meike. Sie soll in ihrer Laube am besten
verbrennen.
Eines Nachts wachte Corinna auf. Regen prasselte auf das Mansardendach. Sie
starte ins Dunkel und überlegte, ob es vielleicht brennen konnte, und
es gar kein Regen war, was sie hörte, sondern Feuer. Oder beides. Unten
ging die Haustür. Corinna schlich auf die Treppe, und sah, wie die Mutter
völlig durchnässt aus dem Dunkeln in den Flur trat. Kurz drauf
fuhr der Borgward in die Garage. Die Mutter streifte hastig Mantel und Schuhe
aus und lief ins Wohnzimmer.
Wo warst du denn gestern Abend, fragte Corinna am nächsten Tag. In der
Laube, sagte die Mutter. Ich glaube, euer Vater wird bald dort einziehen.
Nie! schrie Meike, als Corinna ihr schadenfroh davon berichtete.
Und sie hatte Recht. Wenige Tage später ging die Laube in Flammen auf
und Frau Kruse verbrannte darin. Dabei habe es besonders laut geknallt, sagte
Meike, während sie den Deckel ihres Feuerzeugs auf- und zuklicken ließ.
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