Keine Semmeln

 

Wenn es GrauBROT gibt, muss es auch GrauSEMMELN geben!

 

Keine Semmeln. Wenigstens keine frischen, nur der trockene Schrott von gestern.

Kaum bist du nicht sichtbar, wirst du vergessen. Sie stehen auf, frühstücken, beißen, nur an sich und ihren unmittelbaren Genuss denkend, in die duftenden, frischen, lockeren Bürchener Backwaren, die Jürgen, obwohl er "der Cheffe" ist, jeden Morgen mitbringt, goldgelbe, knusprige luftige Kugeln, wie Ballons, die du bedachtvoll aufschneidest, deren dabei herabrieselnden Krumen du mit der angefeuchteten Fingerkuppe auftastest und zu Munde führst, deren sich dir offenbarenden Hälften du mit Butter bestreichst, die du mit Marmelade oder Honig krönst… Sie denken nur an ihren unmittelbaren egoistischen Genuss und daran, dass sie für die bevor stehende Wanderung in den Walliser Bergen Kohlenhydrate benötigen, viele Kohlenhydrate.

Nichts. Suche ergebnislos. Alles aufgefressen, schimpfte in ihr die Stimme, die sie als eine zuverlässige Begleiterin aller Frustrationen nur zu gut kannte: Keiner hat an dich gedacht. An die, die mal ausschlafen, die mal nicht wandern wollte, jedenfalls nicht mit anderen, die dich zuquatschten, zumal du, sagen wir es ehrlich, außerdem ziemlich verkatert bist - und klar: Eigensinn und Maßlosigkeit werden bestraft, und sei es in Form von Liebes – und Nahrungsentzug. Es war die "Die Welt ist schlecht und noch schlechter sind die Menschen"-Stimme.

Ach was, flüsterte nun eine andere Stimme, die sie allerdings auch ganz gut kannte, etwa von Wünschelrutenschlägerinnen und ledigen Psychologinnen in den Wechseljahren, also ihr eigentlich entfernten Positiv- und Gutdenkerinnen- und Menschinnen, die zunehmend ihren Weg kreuzten, als sei es nicht schon eine Strafe genug, dass man täglich älter wurde, sich diese Tage zu Wochen, Monaten, Jahren und Jahrzehnten in Lichtgeschwindigkeit summierten, während man innerlich und heimlich ein Kind blieb, das nichts anderes wollte, als die Bauklötze umzuwerfen und am Weihnachtsbaum Zicke-Zacke-Hühnerkacke! zu rufen.

Aber nicht doch, wisperte die Stimme begütigend, das sind jetzt alles so negative Gedanken. Das führt doch zu nichts. Wahrscheinlich hat niiiemand heute eine frische Semmel gehabt. Sie haben alle das Brot von gestern gekaut, und das war für niiiemanden eine Katastrophe. Heute hat Jürgen es einfach vergessen, Semmeln mitzubringen. Das kann doch mal vorkommen.

Sie schaute sich unwillkürlich um, wer da denn sprach, dachte für einen beängstigenden Moment, dass es die einsame Tomate sein könnte, die jemand übrig gelassen hatte, und sagte dann, zu sich wie zu der Tomate: Aber das glaubst auch nur du, der Jürgen kauft nicht zwanzig Jahre lang jeden Morgen Semmeln und vergisst es dann plötzlich.

Gut, dann hatte wohl der Laden zu, Dienstag ist Ruhetag.

Quatsch! Wir wissen doch genau: Ruhetag ist Sonntag.

Okay, dann, dann, eh… Der Bäcker war unpässlich. Husten, Schnupfen – da kann er ja nicht seine Bazillen in den Teig eh… fallen lassen.

Nimmt er halt einen Mundschutz. Außerdem: Grippe hat man jedes Jahr. Also wird so ein Bäcker dafür Vorkehrungen getroffen haben. Jemand wird ihn dann ersetzen. Erst recht in der Hochsaison.

Ja gut, beharrte die Tomatenstimme, aber es kann ja auch etwas Unerwartetes passieren. Womit niemand, auch der Bäcker nicht rechnen konnte…

Haha, der deus ex machina!

Doch. Der Bäcker war heute morgen in der Tat wie immer dabei, den Teig durchzuwalken, er trug dabei sein weißes Unterhemd, er stand leicht gebeugt über… über einer Art Wanne, und seine mehlweißen Unterarme, seine tellergroßen Hände fuhren rechts und links in den blasigen Teigberg, um das Unterste, wie bei einem über die Jahrhunderte mahlendem Gletscher, zum Obersten zu befördern.

Es war gerade die Menge, die er bewältigen konnte. Er hatte in den Jahren, in denen er nachts für Bürchen, ach, für das gesamte Tal das Backwerk bereitete, diese Menge allmählich gesteigert, nur um zu vermeiden, an zwei Trögen zu schuften. Zwei Teigpartien anzusetzen. Das sparte ihm jede Nacht dreißig Minuten, die er beispielsweise länger schlafen konnte, aber darum ging es ihm nicht, es waren dreißig Minuten, die er für sich hatte. Er gewann seinem Leben auf diese Weise, das hatte er einmal ausgerechnet, ungefähr eintausend Stunden ab.

Mir kommen die Tränen.

Das ist schön. – Aber nun hatte er seine Grenze erreicht. Kein Gramm mehr durfte hinzu, sonst müsste er kapitulieren. Das runde Gesicht des Bäckers war schweißnass und trotzdem kreidebleich. Er bekam kaum noch Luft und hatte das Gefühl, dass das Mehl seine Lunge verstopfte. Bevor er mit seinem Antlitz, das im Laufe der Jahre immer mehr einer zu kurz gebackenen Semmel gleich geworden war, kopfüber in den Trog stürzte, bevor ihm der aufgehende Hefeteig nacheinander Mund, Nase und Augen verschloss, dachte er: Es ist zuviel. So kam es, dass ganz Bürchen an diesem heutigen Morgen keine Semmeln bekam.

Blödsinn, man hat heutzutage Teigmaschinen; und wenn es heutzutage überhaupt noch Backstuben gibt, in denen Bäcker selbst backen, so stehen sie in einer chromblitzenden Anlage und beobachten, wie stählerne große Löffel rühren und rühren und rühren. Und sie haben zweitens einen Gesellen oder wenigstens Auszubildenden, der, wenn der Meister etwa von einem Infarkt getroffen jählings in den Trog oder aber, wahrscheinlicher, auf die weißen Fliesen niederstürzt, zu Hilfe eilt und außerdem Hilfe ruft.

Und während die Sanitäter, deren orangefarbene Arbeitskleidung der Backstube übrigens etwas seltsam Lebendiges verleihen, was dir, liebe Tomate, möglicherweise fehlt, unseren Bäcker mit dem Defibrillator behandeln, während sie rufen: zweihundert – und wegtreten – dreihundert – und – weg, während der Leib des Bäckers sich unter den Stromstößen aufbäumt und er dann aber meinetwegen, wenn du es unbedingt willst, doch irgendwo zwischen zweihundert und dreihundert Volt abkratzt, finito! – ist die Teigmaschine dazu übergegangen, im Rhythmus ungefähr eines schlagenden Herzens kreisrunde Teile vom Teig abzustechen, die langsam über ein Förderband in den Gar-Raum gleiten und dort in der immer gleichen, konstanten Temperatur zu goldgelben Ballons aufgehen. Weshalb der Tod des Bäckers überhaupt nicht zur Folge hätte, dass irgendein Frühstückstisch leer bleibt. Aber überhaupt nicht. Mitnichten. Nullo.

Ja, gut – aber heute Morgen war der Lehrling des Bäckers krank, und der Meister machte sich alleine an die Arbeit. Er war darüber nicht sonderlich verärgert, weil er ohnehin vorhatte, den Lehrling zu feuern, denn dieser war ihm zu oft unpässlich, und wenn er da war, stand er nur im Weg herum. Ein lang aufgeschossener Sechzehn – oder Siebzehnjähriger, den offenbar alles auf der Welt mehr interessierte, als Menschen, die er gar nicht kannte, mit Semmeln zu versorgen.

Der Bäcker schaltet morgens um halb vier also deine Teigmaschine an und befüllt sie mit der üblichen Menge an Mehl, Trockenhefe, Wasser und Salz. Er nimmt auf dem Schemel Platz und streicht sich etwas Mehl ab, das sein Hemd bestäubt hat. Er sieht zu, wie die Chrombügel durch den Teig pflügen, er sieht auf seine Arme, die viele, viele Jahre lang dieses Werk verrichtet haben und nun wie Fremdkörper auf seinen Oberschenkeln liegen, die die Form sehr großer Brote haben, als plötzlich sein linker Arm zu zucken beginnt.

Während er sich darüber wundert, was den Arm veranlasst, zu vibrieren und zu zittern wie eine stotternde Maschine, rasen Schmerzen wie Speere durch seine Brust.

Sie heben ihn von dem Schemel auf, lassen seinen Körper einmal um sich selbst rotieren, um ihn dann mit dem Hinterkopf voraus auf den weißen Fliesenboden zu werfen, wo sich sofort eine dunkelrote Blutlache ausbreitet. Bevor dem Bäcker die Sinne schwinden, wälzt er sich herum und reißt das Kabel, welches die Teigmaschine mit Strom speist, aus der Wand.

So. Und das ist die Geschichte, warum es heute früh keine Semmeln gab. Für dich nicht, für niemanden. Und nun gib' Ruhe!

Nein! Denn in diesem Moment betritt der Lehrling, den ein schlechtes Gewissen und eine nörgelnde Mutter inzwischen haben genesen lassen, die Backstube. Er zögert in einem kurzen Konflikt und stöpselt den Stecker der Teigmaschine wieder ein. (Später wird er die Schutzbehauptung aufstellen, er habe sofort bemerkt, dass er selbst dem Meister nicht helfen konnte, der Teig – mit dem er sich auskannte – aber noch keinen Schaden genommen hatte.)

Während die Teigmaschine sirrend wieder hochfährt, entweichen aus dem Körper des Meisters übel riechende Gase, als wolle er damit einem Unmut Laut geben. Und der Lehrling hasst plötzlich die ganze Welt, aber wie immer packt er die fertigen Semmeln in den großen Korb, welchen er in den Laden trägt, um bei dieser Gelegenheit von dort auch gleich die Sanitäter anzurufen, die den Meister mit Blaulicht ins Krankenhaus nach Yps bringen, wo er möglicherweise gerettet wird oder auch nicht.

Wie auch immer, dachte sie, während sie etwas Butter auf das alte Brot strich und der Tomate mit dem stumpfen Messer langsam in Scheiben quetschte, die Welt ist so, wie sie ist.

 


 
Nach oben
Geschichte drucken
Zur Übersicht
Zur Begrüßungsseite